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Ausgabe 01/2024 “Mental Health inside Mental Hell” ist erschienen

Dass psychische Gesundheit sowie der Umgang mit ihr Themen darstellen, welche eng mit sozialen Strukturen und Kontexten verwoben sind, wurde in der Soziologie bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt. Für Betroffene stehen selbstredend im strengeren Sinne gesundheitliche Aspekte sowie Fragen nach dem individuellen Leidensdruck im Vordergrund. Doch die Unterteilung in psychisch gesund und psychisch krank erfüllt auch eine sozial ordnende und strukturierende Funktion, denn anhand dieser Unterscheidung wird u.a. festgelegt, welche Gefühlswelten und damit verbundene Verhaltensweisen als „normal“ erwartet werden (können) und welche wiederum von dieser Erwartung abweichen. Von den Normalitätserwartungen abweichendes Verhalten wird sanktioniert, was von Ausschlüssen aus vielen gesellschaftlichen Bereichen bis hin zum einschließenden Ausschluss etwa in psychiatrische Kliniken reichen kann. Dies dient der Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung.

Anhand dieser soziologischen Einsichten lassen sich nach wie vor aufschlussreiche Perspektiven auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit psychischer Gesundheit gewinnen. Gleichzeitig werden heute andere Aspekte bedeutsam. Inzwischen sind zahlreiche Bemühungen zu verzeichnen, die darauf hinarbeiten, psychische Erkrankungen zu normalisieren. Dies soll die Betroffenen vom individualisierenden Stigma befreien, welches mit einer Erkrankung rasch einhergeht, und es ermöglichen, weiterhin an der Gesellschaft teilzuhaben. Auf der einen Seite resultiert aus den Bemühungen die durchaus als positiv einzuordnende Konsequenz, dass mit psychischen Erkrankungen nicht automatisch der Ausschluss aus dem regulären gesellschaftlichen Zusammenleben verbunden ist. Es werden u.a. Räume von und für Betroffene geschaffen, in denen sie Erfahrungen teilen sowie Bedürfnisse und Forderungen öffentlich artikulieren können. Auf der anderen Seite steht allerdings die Einsicht – und hierauf spielt unser Titel „Mental Health inside Mental Hell“ letztlich an –, dass die allgegenwärtige diskursive Problematisierung psychischer Gesundheit im Zuge ihrer Normalisierung selbst Ursache psychischen Leids sein kann. Die neoliberale Anforderung, psychisch immer möglichst effizient funktionieren zu müssen, erzeugt einen anhaltenden (Leidens-)Druck, während die größere Aufmerksamkeit in Bezug auf psychische Gesundheit und die gleichzeitige Zunahme des gegenwärtigen Krisenbewusstseins zu immer mehr Faktoren führen, die als potenziell problematisch wahrgenommen werden können. An Euren Gedanken zum gewandelten Umgang mit psychischer Gesundheit in einer krisengeplagten Gesellschaft sowie zum Spannungsverhältnis innerhalb des modernen Blicks auf das Themenfeld der psychischen Gesundheit waren wir für dieses Heft interessiert.

Wir freuen uns dementsprechend sehr, für das vorliegenden Heft vier spannende Beiträge rund um diese Themensetzung vorstellen zu können! Zudem ist ein detailliertes Interview mit Rolf Pohl in dieser Ausgabe enthalten. Hierin wird die Relation von Normalität und Pathologie anhand des Rechtsextremismus thematisiert. Im Gespräch mit unserem Redakteur Marc Blüml elaboriert Pohl in psychoanalytischer Denktradition die psychischen und gesellschaftlichen Ursachen für die zugenommene Attraktivität der extremen Rechten. 

Im ersten Beitrag „Mental health in climate hell – Eine Kritische Diskursanalyse des deutschsprachigen psychologischen Diskurses über Klimaresilienz“ widmet sich Esther Röcher dem Klimawandel und seinen krisenhaften Begleiterscheinungen als ein zentraler Aspekt, welcher aufgrund damit verbundener Unsicherheiten sowie Ohnmachtserfahrungen für viele Menschen derzeit potenziell psychisch belastend ist. Das Augenmerk liegt auf der Frage, wie im Diskurs über individuelle Klimaresilienz mit der Zuschreibung von Verantwortung umgegangen wird und wie das Potenzial der psychischen Belastung durch die Klimakrise im Diskurs selbst reflektiert wird.

Der zweite Beitrag „Verdrängte Ohnmacht: Widersprüchliche Subjektivierungen im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung“ von Leon Kianzad befasst sich mit verbreiteten Ohnmachtsgefühlen, wie sie in Krisenzeiten auftreten. Der Autor verweist ideologiekritisch darauf, dass die in neoliberalen Gesellschaften enttäuschten Ansprüche an Selbstverwirklichung auch der Aufrechterhaltung kapitalistischer Verwertungslogiken dienen. In diesem Zusammenhang bedeutet die Selbstverständlichkeit, mit der psychisches Leiden hingenommen wird, dass die dem Kapitalismus zugrundeliegende Strukturzusammenhänge weiterhin ihre Wirkung entfalten können, trotz des inhärenten Krisenpotenzials und damit ansteigender individueller psychischer Belastung. Im dritten Beitrag „Psychotherapie am Arbeitsplatz als regulativer Bestandteil des Postfordismus“ deutet Robin Sachsenröder das Phänomen sich ausweitender psychotherapeutischer Intervention am Arbeitsplatz aus einer regulationstheoretischen Perspektive. Die Interventionen am Arbeitsplatz werden als hegemoniale Antwort auf die sich im Arbeitskontext bahnbrechenden psychischen Leiden interpretiert. So bleiben die dahinterliegenden strukturellen Probleme im Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsweise letzten Endes erneut unangetastet.

Nachdem die ersten drei Beiträge eine theoretische Herangehensweise an das Thema wählen, ist der vierte Beitrag an einer methodischen Fragestellung interessiert. „Grenzen im Schreiben und Fühlen – zum Verhältnis von Emotionstagebüchern und psychischer Belastung“ von Maja Heining nimmt Emotionstagebücher als Methode der Feldforschung in den Blick und benennt das Problem, dass psychische Belastung emotionales Erleben potenziell beeinträchtigt. Somit kann auch die Tagebuchführung erschwert oder gar verunmöglicht sein. Heining widmet sich der Suche nach Modifikationen, anhand welcher die Methodik inklusiver gestaltet werden kann.

Das Thema der psychischen Gesundheit in einer Gesellschaft, innerhalb derer sich auch in den nächsten Jahren Herausforderungen stellen werden und sich eine neue Stabilität jenseits der sich aneinanderreihenden Krisen (noch) nicht abzeichnet, wird weiterhin relevant und aktuell bleiben. In diesem Kontext ist es nicht nur wichtig, Betroffenen möglichst früh und passgenau Hilfe anzubieten. Auch ist es hilfreich, die sozialen Strukturen, welche psychische Belastungen verstärkt hervorbringen, in den Blick zu nehmen, um individualistisch-pathologisierende Verkürzungen zu vermeiden. Daher freuen wir uns sehr, in diesem Heft vier Beiträge rund um das Thema versammeln zu können. Wir möchten allen Beitragenden herzlich für ihre Einsendungen und die konstruktive Zusammenarbeit danken. Unseren Leser*innen wünschen wir eine spannende Lektüre. Vielen Dank für Euer Interesse!

Stellvertretend für die Redaktion des Soziologiemagazins, August 2024

Nils Haacke & Annabell Lamberth


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Die Redaktion (7. Mai 2025). Ausgabe 01/2024 “Mental Health inside Mental Hell” ist erschienen. soziologieblog. Abgerufen am 18. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13vjk


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